das handling mit der anamnese

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  • #13357
    Chiara
    Teilnehmer

    lieber wilfried

    schon des öfteren hast du die wichtigkeit der genauen anamnese angesprochen.
    ich habe noch eine frage dazu: wenn wir eine diagnose, welche die klienten vom arzt mitbringen ganz genau erfragen, erwecken wir dann nicht auch den anschein wir würden damit arbeiten? die klienten „müssen“ dann ja quasi wie beim arzt auskunft geben und die vorstellung vom klienten ist doch dann auch, dass wir darauf eingehen können. verstehst du was ich meine?
    ich selber, weiss ja, dass ich dann nach energetischen mustern schaue und damit arbeite, aber der klient weiss ja das nicht.
    ich sammle also fakten in einem gebiet, wo ich gar kein fachmann bin (du selber natürlich ausgenommen). wie findest du den richtigen umgang damit? sollte man das jedesmal auch klarstellen? allerdings wird das ganze dadurch auch etwas kompliziert.
    liebe grüsse
    chiara

    #13366

    Liebe Chiara,

    Das ist in der Tat eine wichtige Frage. Und: ich vermute hier ein Missverständnis.

    Ich denke, dass ich nicht von einer genauen Anamnese gesprochen habe, sondern davon, in der Anamnese keine Furcht vor Fragen zu haben, die sehr persönliche Dinge angehen (wenn es sinnvoll ist danach zu fragen, was meist der Fall ist) und auch medizinische Diagnosen.

    Was wir im Erstgespräch (diesen Begriff ziehe ich gegenüber dem medizinischen Begriff der ‚Anamnese‘ vor) von dem Klienten erfahren möchten, ist v.a. ein Gefühl für seine Lebensituation. Diagnose heißt eben Verstehen, und wenn wir einen Menschen in seiner Lebensituation verstehen möchten, dann brauchen wir auch relevante Infos, z.B., wenn so etwas im Raum stehen sollte, die einer medizinischen Diagnose.

    Es ist die Natur medizinischer Diagnosen, dass sie Angst machen. Menschen fühlen sich zudem damit nicht selten allein gelassen. Einfühlsame Fragen bezüglich einer medizinischen Diagnose können dem Klienten das Gefühl geben, nicht allein zu sein, und du bekommst u.U. sehr wertvolle Informationen. Wertvolle Informationen darüber, was bei diesem Menschen im Vordergrund steht, manchmal sehr dringend. also keine Scheu davor, nach Diagnosen zu fragen.

    Dabei ist mir wichtig zu betonen, dass wir nicht „mitgebrachte Diagnosen ganz genau erfragen“, sondern lediglich, dass wir keine Scheu haben, auch schwerwiegende Diagnosen (und genauso auch andere schwierige Themen) offen anzusprechen. Davor scheuen nach meiner Erfahrung viele Shiatsu-Therapeuten zurück. Natürlich ist es dann hilfreich, wenn einem die jeweilige Dianose auch etwas sagt – es ist also sinnvoll, so man diese Diagnose nicht kennt, anschließend zu googeln und in Erfahrung zu bringen, was es darüber zu wissen gibt. Das gibt dir übrigens das Gefühl, in deiner Arbeit sicherer zu sein.

    Wenn man die Diagnose kennt und versteht, soll man sie loslassen und schauen, was aus der Sicht des Shiatsu bei diesem Menschen tatsächlich los ist. Dazu dienen die anderen Fragen im Erstgespräch: die Fragen z.B. nach den 5 Elementen, das genaue Nachfragen nach konkreten Beschwerden (wo genau, seit wann, wodurch ausgelöst, was macht es besser, was schlechter etc.etc.), ebenso aber auch das Schauen und den Menschen in der Berührung erfahren. Die Fragen nach den 5 Elementen und nach den konkreten Beschwerden weswegen ein Klient zu uns kommt, sind keine Fragen zur medizinischen Diagnose sondern Fragen, um zu erfahren, was dort im Körper des Klienten konkret vor sich geht.

    Die medizinische Diagnose ist Ausdruck der Sicht des Menschen, wie ihn die Medizin entwickelt hat. Diese Sicht hat ihre Berechtigung und ist in der Medizin auch unabdingbar. Shiatsu sieht und versteht den Menschen aber ganz anders, darum ist es essentiell, die medizinische Diagnose loszulassen, und wirklich auf diesen Menschen einzugehen. Ich sage dann immer: den Mut haben, nicht zu wissen – und dann zu entdecken. Shiatsu-Therapeuten sind in der Regel keine Mediziner und verstehen nur wenig von der Medizin. Die Schulmedizin wiederum versteht in der Regel überhaupt nicht, was wir im Shiatsu machen und welche Chancen das dem Menschn bietet. Wenn sie es wüssten, würden sie viel mehr Shiatsu einsetzen, z.B. im Krankenhaus.

    Dadurch, dass wir auch nach einer medizinischen Diagnose (und anderen heißen Themen) fragen, zeigen wir, dass wir keine Scheu vor schwierigen Lebensthemen haben, und dass der Mensch sich uns anvertrauen darf. Wir erhalten wichtige Einblicke in die Lebensituation dieses Menschen. Unsere Vorgehensweise im Shiatsu wird jedoch nicht durch die medizinische Diagnose bestimmt, sondern durch unseren umfassenden Einndruck von diesem Menschen.

    Ich habe übrigens nur sehr selten die Erfahrung gemacht, dass Klienten glauben, dass ich nun wie ein Mediziner die medizinische Diagnose bekämpfen würde. Wenn so etwas vorkam, dann habe ich klar gestellt (und es ist wichtig, das zu tun) , dass wir im Shiatsu ein anderes Bild vom Menschen haben als die Schulmedizin, dass wir Beschwerden und Krankheiten nicht bekämpfen, sondern im Klienten die Freiheit unterstützen, andere Lösungen zu finden als diese Probleme. Denn die Probleme sind nahezu immer auch eine Lösung für andere Konstellationen und Probleme in diesem Menschen. Du würdest es wahrscheinlich anders erklären. Wichtig ist nur, dass du keine Missverständnise aufkommen lässt, wie du arbeitest, und dass du den Reichtum deines Shiatsu zeigst.

    Wird es so verständlich?

    herzliche Grüße, Wilfried

    #13371
    Chiara
    Teilnehmer

    lieber wilfried

    vielen dank für deine ausführliche antwort. ja für mich ist es jetzt verständlich.
    weisst du, den stellenwert des erstgespräches hab ich, glaub schon verstanden. meine frage hat sich auf den kleinen teilbereich der medizinischen diagnose bezogen, die die klienten mitbringen. (und die du oft im forum bei deinen antworten genauer erfragst).
    aber dein hinweis, dass ich frage um anteil zu nehmen um wirklich zu wissen, was daran den klienten innerlich bewegt, den finde ich für mich sehr hilfreich. dann frage ich mit einer anderen inneren haltung. (und gebe mich nicht als „pseudomediziner“ aus – überspitzt formuliert).
    und ich muss ehrlich gestehen noch vor ein paar jahren hab ich mich vor schwerwiegenden diagnosen oder lebensumständen sehr gefürchtet. wahrscheinlich aus dem falsch verstandenen auftrag, ich müsse jetzt „dagegen“ etwas tun und der damit einhergehenden überforderung.- jetzt gelingt es mir besser, einfach an dem schweren teilzunehmen und mit der shiatsubehandlung den klienten
    möglicherweise mit anderen lichteren aspekten seines lebens in kontakt zu bringen.
    es ist schon spannend, dass mut so eine zentrale rolle im shiatsu einzunehmen scheint. aber mir gefällt die vorstellung, dass ich nicht zum bungee jumping gehen brauche, um meinen mut wachsen zu lassen, sondern einfach in den praxisraum.
    liebe grüsse
    chiara

    #13377

    toller Slogan: Shiastu statt Bungee Jumping.

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